Schreibimpulse

Welken vs. Reifen

Im Herbst lässt es sich gut über den Wandel im eigenen Leben nachdenken. Die Natur ist uns Vorbild und Begleiterin.

Der österreichische Autor und Klein-Verleger Gerhard Jaschke verkaufte einst auf der Frankfurter Buchmesse T-Shirts mit der Aufschrift:

Welch erhebendes Welken

Leider ist mein damals erstandenes T-Shirt inzwischen dem häufigen Waschen zum Opfer gefallen. Ich trug es oft und mit Freude. Einerseits wegen des Sprachwitzes, andererseits weil Welken grundsätzlich nichts Negatives für mich bedeutet. Es symbolisiert den immerwährenden Wandel und damit die Chance auf Veränderung! Zudem steht Welken wie auch Altern ja auch für Reifen und zur-Ruhe-Kommen…

Aus diesem Grund widme ich mich in diesem Schreib-Impuls dem Herbst, führt er uns doch wie keine andere Jahreszeit dieses Welken und damit den Wandel aller Dinge vor Augen.

Ein Gedicht soll wieder Ausgangspunkt für das eigene Schreiben sein:

Welkes Blatt

Jede Blüte will zur Frucht,
jeder Morgen Abend werden.
Ewiges ist nicht auf Erden
als der Wandel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer will
einmal Herbst und Welke spüren.
Halte, Blatt, geduldig still,
wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
lass es still geschehen.
Lass vom Winde, der dich bricht,
dich nach Hause wehen.

Hermann Hesse

Die Natur mit ihren sichtbaren Zeichen des Wandels im Jahresverlauf kann uns dazu anregen, über den Wandel in unserem Lebensverlauf nachzudenken:

  • Was hat sich bei mir – in meiner beruflichen Tätigkeit, in der Familie, meinen Beziehungen etc. in den letzten Jahren verändert?
  • Wie erlebe ich diesen Wandel? Wie wirkt er auf mich, welche konkreten Auswirkungen (körperlich, geistig, emotional) hat er auf meinen Alltag, auf konkrete Verhaltensweisen?
  • Welche Einstellungen und inneren Werte haben sich mit meinem Älterwerden gewandelt?
  • Was ist mir heute wichtig, was mir vielleicht vor einigen Jahren noch ganz unbedeutend schien?
  • Was wünsche ich mir für meinen weiteren Lebensweg?
  • Und wie stelle ich mir den „Herbst meines Lebens“ vor?

Und schlussendlich, den letzten Vers des Gedichts betrachtend, können wir uns fragen:

  • Wo ist mein „Zuhause“? Wohin will ich mich „wehen“ lassen?

Setzen Sie sich dazu an einen gemütlichen Ort – vielleicht vor ein Fenster, durch das Sie nebenbei den vorbeiwirbelnden Blättern zusehen können – und schreiben Sie alles auf, was Ihnen einfällt. Wie immer soll dies ohne Zensur, schnell und automatisch geschehen.

Das „automatische Schreiben“ ist übrigens eine Schreibmethode, die dem Freewriting sehr ähnelt, aber aus der Psychologie kommt. In seiner Urform („écriture automatique“) setzte Pierre Janet sie seit 1889 als psychologische Behandlungsmethode ein: Der/Die PatientIn solle im Halbschlaf, in Trance oder unter Hypnose schreiben, um das Unbewusste ins Bewusstsein zu holen. Später entdeckte der Surrealist André Breton das automatische Schreiben für die Literatur, als ein Verfahren zur erweiterten Freisetzung des Imaginativen.
Das planende Überlegen und die Kritik sollten dafür vorübergehend ausgeschaltet werden, alle Aufmerksamkeit sich auf die innerpsychischen Vorgänge fokussieren. Wichtig dabei ist eine entspannte Atmosphäre, damit der/die Schreibende sich ganz auf den Film, der in seinem/ihrem Kopf abläuft, konzentrieren und diesen schreibend umsetzen kann. Auf sämtliche Sprach- und Grammatikregeln kann verzichtet werden, alles ist erlaubt. Der Film, der sich im Kopf abspielt, wird in seiner ganzen Sprunghaftigkeit und scheinbaren Unstrukturiertheit festgehalten.

Den so entstandenen Text können Sie natürlich später noch einmal lesen, bei Bedarf überarbeiten, verdichten, ergänzen… – was immer Ihnen Freude macht!

Ich wünsche Ihnen entspannte Herbst- und Schreib-Stunden und ein „erhebendes Welken“ – oder zumindest ein erhebendes Gefühl beim Beobachten der welkenden und sich verfärbenden Natur!

Herbstlich-reifende Grüße
Ihre
Alexandra Peischer

Quellen:

  • Hermann Hesse: Mit der Reife wird man immer jünger. Betrachtungen und Gedichte über das Alter. Hrsg. von Volker Michels, insel taschenbuch it2311, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 56
  • André Breton: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek: Rowohlt 2004
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